In Stuttgart die innere Einheit schaffen

Rede anlässlich des 22. Tages der Deutschen Einheit in Stuttgart mit Bundesminister Wolfgang Schäuble am 3. Oktober 2012

Vor 22 Jahren, am 3. Oktober 1990 feierten zehntausende Menschen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin den Geburtstag unseres wieder vereinten Landes. Mindestens zwei davon sind heute hier. Sie, lieber Herr Schäuble, sind der eine. Sie waren vorne bei den Architekten dieser Geschichtsstunde zwischen Willy Brand und Helmut Kohl und ich schaute Ihnen zu. Diese bewährte Sitzordnung werden wir auch hier im Saal in wenigen Minuten wieder herstellen.

Am 3. Oktober vor 22 Jahren endete ein Jahr, dessen Geschehnisse für unmöglich, ja für wunderbaren Wahnsinn gehalten worden waren. In nur zwölf Monaten war eine Diktatur wie ein Kartenhaus eingestürzt, ein Land und ein Kontinent waren friedlich geeint. Und dabei war kein einziger Schuss gefallen!

Die Erfahrung der europäischen Selbstbefreiung 1989 hat mich geprägt. Ich bin ein 89er. Das ist die Generation nach den 68ern. Mich hat auch die Generation der 68er beeinflusst. Ich sage das ohne Vorwurf, ich sage es sogar mit einer gewissen Dankbarkeit. Jede Generation reibt sich an der davor. Die 68er hatten in manchem recht. Aber die Diktaturen von Honecker bis Ceaușescu – das war für sie eine Nebensache. Das war zu tiefst unaufrichtig.

Es ist eine der unaufgearbeiteten Lebenslügen der Linken, dass ihr Gerechtigkeitssinn an der Mauer endete und es ist eine späte Entlarvung, dass der Mann, der die Deutschen gegen die Einheit aufzuwiegeln versuchte, heute der Kopf ist der Nachfolger der SED. Das ist eine gerechte Strafe.

Wenn ich sage, die deutsche und europäische Selbstbefreiung 1989 hat mich geprägt, dann ist es die Erfahrung, dass das, was unveränderlich erscheint, in Wahrheit verändert werden kann. Ich bin aufgewachsen, hier in Stuttgart, mit der Gewissheit, dass das Monstrum Mauer auf ewig stehen würde, dass unser Land auf ewig geteilt sein würde. Diese Ewigkeit ist heute seit 22 Jahren vorbei. Die Lehre von 1989 ist: Was wir ändern wollen, das können wir ändern – es kann dauern, aber es lässt sich nicht verhindern.

Unmittelbar nach dem Fall der Mauer, noch vor der ersten freien Wahl im März 1990, bin ich mit Freunden nach Dresden gezogen. Wir haben in einem Kinderzimmer als Gründer angefangen und miterleben dürfen, wie die Freiheit uns Menschen beflügelt. Das ist das Lebensgefühl der 89er: der Wunsch nach Freiheit verändert alles. Wir Bürger können unser Schicksal gestalten.

Und noch etwas anderes habe ich erleben dürfen. Wie richtige Weichenstellungen ein Gemeinwesen voranbringen können. Aus der Ferne habe ich Sie, lieber Herr Schäuble, in Bonn als einen der Weichensteller für Deutschland und Europa erlebt. Und aus der Nähe Kurt Biedenkopf, den ersten Ministerpräsidenten des wieder begründeten Freistaates Sachsen.

Die Zeit reicht nicht, um diese Leistung zu würdigen. Aber wir sollten uns erinnern, wenn wir heute in Europa um toxische Wertpapiere ringen, dass wir vor dem Mauerfall über tödliche Waffenarsenale gestritten haben. Und wenn wir die Leistung heute beurteilen wollen, dann brauchen wir Sachsen nur mit Brandenburg vergleichen. Beste Schulen und niedrigste Schulden – das ist Sachsen. Brandenburg hat schlechte Schulen und hohe Schulden. Die neue Landesregierung von Baden-Württemberg scheint sich Brandenburg zum Vorbild zu nehmen. Es reduziert die Lehrer, bläht die Bürokratie auf und erhöht auch noch die Schulden. Das Motto heißt: Mit grüner Führung rote Zahlen schreiben. Das wollen wir Stuttgart ersparen.

Auch in Stuttgart geht es jetzt um Weichenstellungen. Die Stadt hat seit Jahrzehnten Glück mit ihren Oberbürgermeistern gehabt. Wenn Stuttgart heute in so vielen Ranglisten auf dem ersten Platz ist, wenn Stuttgart Kraftzentrum des immer noch innovativsten deutschen Bundeslandes ist, dann ist das auch die große Leistung von Manfred Rommel und Wolfgang Schuster. Jeder OB-Kandidat kann dankbar sein, an so hervorragende Arbeit anknüpfen zu dürfen.

Diese gute Grundlage, die Wolfgang Schuster und Manfred Rommel hinterlassen, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aufgaben nicht einfacher werden. Vor Stuttgart liegt eine große Herausforderung, für die wir die Weichen jetzt stellen müssen. Es geht um unser Zusammenleben in einer sich grundlegend verändernden Gesellschaft. Dazu nur zwei Zahlen: Als ich in Stuttgart die Grundschule besucht habe, waren von vierzig Kindern in meiner Klasse drei oder vier Mitschüler zugewandert. Heute haben 60 Prozent aller Grundschulkinder einen Migrationshintergrund.

Und wir bürden dieser Zukunft eine gewaltige Versorgungslast auf. Als ich geboren wurde, haben vier Beitragszahler einen Rentner getragen. Wenn ich in Rente gehe, wird ein einziger Beitragszahler für einen Ruheständler aufkommen müssen. Meine Damen und Herren, die Zukunft von Stuttgart ist zugewandert und auf ihr liegt eine enorme Versorgungslast.

Die Aufgabe die vor uns liegt, ist gewaltig. Um diese Aufgabe zu meistern, müssen wir eine neue innere Einheit schaffen. Die Einheit von Alt und Jung und von Alteingesessen und neu Zugewandert. Diese neue innere Einheit wird uns nur gelingen, wenn wir uns auf unseren einzigen Rohstoff besinnen. Unser Rohstoff heißt Hirn und unsere Fördertechnik heißt Bildung. Wenn Deutschland die Bildungsrepublik werden will, dann braucht es dafür auch eine Hauptstadt. Mein Ziel als Oberbürgermeister von Stuttgart heißt : Die deutsche Bildungshauptstadt wird Stuttgart. Neben der Bildung ist die Stärkung der Nachbarschaft und der Wirtschaft mein Programm.
Das sind die wichtigsten Fragen unserer Stadt. Sie sind viel wichtiger, als die, ob ein Bahnhof längs oder quer im Tal liegt. Überall in Deutschland wundert man sich darüber, dass sich in Stuttgart Demonstrationen gegen eine bessere Infrastruktur bilden. Ganz besonders wundert man sich in Ostdeutschland darüber, dass sich die Gegner eines demokratisch bestens legitimierten Bahnhofes einen der heroischsten Begriffe der deutschen Freiheitsgeschichte vereinnahmen. Wer ostdeutsche Teilnehmer an Montagsdemonstrationen kennengelernt hat, würde den Protest gegen ein Eisenbahngebäude nicht so überhöhen.
Es läge jetzt nahe, dieses Verhalten scharf anzugreifen. Aber das bringt uns nicht weiter. Wir müssen in der Stadt den Streit überwinden, um uns um die wirklich wichtigen Fragen zu kümmern.
Es wird Zeit, dass Stuttgart wieder nach vorne blickt und den Streit überwindet. Am Sonntag haben wir alle die Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen gegen den Streit und für die Zukunft. Gehen Sie am Sonntag wählen. Wählen Sie die Zukunft.